Albrecht

Gralle

Die Mauer ist hoch und nur zwei Handflächen breit. Ich stehe oben und weiß nicht, wie ich da hinaufgekommen bin. Vorsichtig balanciere ich und bewege mich nach vorne. Rechts und links geht es abgründig hinab. Zu tief, um irgendetwas zu erkennen. Die Menschen bewegen sich wie bunte Punkte unter mir.Warum habe ich keine Angst? Ich gehe weiter, summe eine Melodie und weiß plötzlich, dass ich nicht fallen werde, wenn ich fallen würde. Also stoße ich mich ab, falle tatsächlich nicht, sondern schwebe neben der Mauer her. Laufe ein Stück auf ihr entlang, verlasse sie wieder, gehe an ihr steil bergauf. Was als Gefahr aussah, ist ein Spiel geworden. So sehr ich mich auch anstrenge, ich falle einfach nicht. Ich bin zu leicht, wie mit Watte und Luft ausgestopft.


Und es ist gut, dass ich leicht bin und kaum Gewicht habe. Ich hätte es an anderer Stelle beklagt, wenn es von mir hieße: „Schau mal, er hat kein Gewicht. Alles ist viel zu leicht an ihm. Die nötige Schwere fehlt. Man könnte ihn umblasen. Wie oberflächlich er dahin treibt! Ekelhaft!“

Aber genau das, was vorher schlecht war, ist jetzt gut, während ich auf der Mauer tanze. Es ist gut, dass man mich umblasen könnte, dass mir angeblich die nötige Schwere des Lebens fehlt, sonst würde ich zugrunde gehen, fallen, fallen, immer schneller. Und dann auf dem Boden zerplatzen wie eine reife Melone.

Irgendwann komme ich an, denn die Mauer hört bei einem Kinderspielplatz auf.

 

Aus: "Der Lastwagen im Schlüsselloch", Aussaat Verlag